Von Kristian Stemmler
Es ist noch nicht einmal klar, wie viele Menschen den Anschlägen von Paris zum Opfer gefallen sind, aber sie sind schon wieder da: Politiker wie Horst Seehofer, die die Gunst der Stunde nutzen, um Gesetzesverschärfungen und mehr Law and Order zu fordern, und natürlich auch die zahllosen Islamhasser und Xenophobiker, die die schrecklichen Ereignisse instrumentalisieren, um gegen Muslime und Flüchtlinge zu hetzen (dazu ein Link: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ paris-anschlaege-verschaerfen-fluechtlingsdebatte-in-deutschland-a-1062918.html). Darum soll an dieser Stelle an einige Zusammenhänge erinnert werden.
Zum einen haben diese Anschläge mit Religion nicht das Geringste zu tun, hier geht es um Politik, Gewalt, Krieg. Zum zweiten sollte man in unserer unübersichtlichen, um nicht zu sagen undurchschaubaren Zeit, sehr vorsichtig sein, vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Selbst wenn die Täter von Paris Islamisten waren, selbst wenn der Islamische Staat die Verantwortung für die Anschläge übernimmt – das heißt doch im Grunde gar nichts. Denn die Frage, die über allem steht, wird damit noch lang nicht beantwortet: Cui bono? Wem nützt das?
Dass Europa in diesen Monaten destabilisiert wird, ist leicht zu erkennen. Und wo das Einfallstor ist auch: Irak, Syrien, Türkei, der Mittlere Osten. Wer aber hat dort erst für Chaos gesorgt? Die Sendung „Die Anstalt“ im ZDF, die eigentlich eine Satiresendung ist, aber momentan zu den wenigen medialen Bezirken gehört, in denen globale Zusammenhänge wirklich benannt werden, hat zu diesen Fragen am 20. Oktober einen interessanten Beitrag geliefert. Die Tageszeitung junge welt berichtet darüber wie folgt:
Max Uthoff und Claus von Wagner haben mit ihrer als »Satire« überschriebenen Sendung Stellung bezogen in der Flüchtlings- und Fluchtursachendebatte. Wer hat denn die ganzen Dschihadistentruppen vom Schlage des „Islamischen Staats“ und der Al-Nusra-Front erst geschaffen? Im Irak, in Libyen und Syrien hat es ein relativ gutes Gesundheitswesen, ein relativ hohes Bildungsniveau und Frauenrechte gegeben, bis die Amerikaner gekommen sind. Eine Milliarde habe Washington in das Training von „Rebellen“ gesteckt – eine Art „Ausbildungsinitiative“.
Das russische Eingreifen in Syrien finde in Einklang mit dem Völkerrecht statt, wohingegen das Vorgehen der Amerikaner zum Regime-Change mit Hilfe der Rebellen ein Verstoß gegen selbiges sei – „was ja eine Sauerei des Völkerrechts ist“. „Das Völkerrecht ist eine wichtige Orientierungshilfe für andere Länder“, gibt das Duo das Denken Washingtons wieder. Am Ende veranstaltet das Team, in Anlehnung an die Kuppelshow „Herzblatt“, „Power sucht Sau“. „Uncle Sam“ braucht eine passende Dschihadistentruppe zur weiteren Zerlegung des Nahen Ostens. Nach dem Heute-Journal mal wieder Aufklärung vom Feinsten.
(Hier der Link zur Sendung: www.zdf.de/ZDFmediathek/kanaluebersicht/aktuellste/2078314#/beitrag/video/2583744/Herzblatt)
Man muss eigentlich nur auf einen Globus oder eine Weltkarte gucken, um zu sehen, dass Irak und Syrien recht weit weg von den USA sind, aber recht nah an Europa. Die Menschen, die vor dem von den Amis maßgeblich angerichteten Chaos in diesen Ländern flüchten, werden also eher nicht in Nordamerika ankommen. Es bleibt dabei: Die kapitalistische Führungsnation ist an Demokratie und Menschenrechten nicht interessiert, was dort letztlich zählt, ist nur Macht. Divide et impera, ist die Devise.
Herr Schäuble, darum haben Sie auch etwas grundsätzlich missverstanden. Die Lawine, die zu Tal geht und uns alle bedroht, das sind nicht die Flüchtlinge, die in Europa ankommen – das ist die Gewalt, die dem Turbokapitalismus inne wohnt und die alles niederwalzt. Alle Traditionen und Werte, die Kultur, die Religion, menschliche Bindungen. Das ist die große Verrohung. Lesen Sie mal das Buch „Amok, Kinder der Kälte“ von Götz Eisenberg, der hat die Bedrohungen schon vor Jahren präzise analysiert!
Schon im Jahr 2000 konstatiert Eisenberg wir seien gegenwärtig „Zeugen des Auseinanderfallens der Gesellschaft in vergleichgültigte, kalte Selbstverwertungsnomaden einerseits und das völlig Abstrakte einer Weltgesellschaft andererseits“. Der Psychologe erläutert: „Die immer weniger in wirkliche, an Personen gebundene Kommunikations- und Bearbeitungsprozesse eingehenden Antriebspotenziale der Subjekte gefährden den Fortbestand der Zivilisation, die ja als Bändigung des Archaischen zu fassen wäre.“
Man habe es nach Robert Kurz mit der „Durchsetzungsgeschichte“ des Kapitalismus zu tun, das eben nicht als fertig ausgebildetes System auf die Bühne getreten sei. Diese Produktionsweise werde vielmehr „erst heute zum totalen Weltverhältnis“.
Eisenberg ergreift klar Partei. „Diejenigen, die der Markt noch nicht als überflüssig ausgespuckt hat, verachten jene als loser, die genötigt sind, in ihren zunehmend segregierten Revieren eine Existenz an oder gar unterhalb der Armutsschwelle zu fristen. Wer sich selbst als winner begreift, zieht sich in seine bunt und glitzernd ausstaffierten Reviere zurück, in die der Geruch von Armut und Elend nicht eindringen soll.“
Und weiter: „Auch in dieser Form der Aufkündigung von Solidarität und Einfühlung sehen wir einen Akt von Barbarei, weil solche Haltungen den Trend zur Zerstörung all jener kollektiven Instanzen und Mentalitäten begünstigen, die einzig in der Lage sind, den Auswirkungen des entfesselten Marktes entgegenzuwirken. Zu den Folgen der Machtergreifung der neoliberalen Religion, die die einzelbetriebliche Kalkulation zur Sozialutopie der ganzen Gesellschaft erhebt, gehört die umfassende Durchsetzung jeder Art von moralischem Darwinismus“.
Eisenberg schließt: „Hinter dem Schleier des neoliberalen gesellschaftlichen Friedens und der hedonistischen Spaßkulur wächst ein Potenzial an Hass, Indifferenz und Feindseligkeit heran, das ihn in letzter Zeit spektakulär zerrissen und den Blick auf seine Rückseite freigegeben hat… Die Hölle des neoliberalen Zeitalters erschließt sich uns als das Zugleich der verschiedenen, sich miteinander verschränkenden Ebenen von sozialer und psychischer Desintegration.“
Wir sollten die Hinweise von Soziologen ernst nehmen, die in den vergangenen Stunden in Fernsehinterviews darauf hingewiesen haben, dass gewaltbereite Islamisten oft aus den Problemvierteln kommen und die Politik diese Viertel sich in den vergangenen Jahren weitgehend selbst überlassen haben. Leider kommen diese Hinweise aber wohl zu spät, wie ich befürchte. Es wird sich wohl Eisenbergs Vorhersage erfüllen:
„Die noch verwertbaren und für die Reproduktion des Kapitals benötigten Menschen werden dynamisiert und über Konsum- und Statusprämien ans System gebunden; über die anderen, die Entbehrlichen und Herausgefallenen, wird mehr und mehr der Polizeistaat kommen.“ Die wahren Terroristen unserer Zeit sitzen in den Konzernzentralen und Regierungspalästen!
Hinterlasse einen Kommentar