Von Kristian Stemmler
Helena Fürst hält ausnahmsweise den Mund. Damit ihr da nicht irgendwelche Schaben, Würmer oder andere Kriechtiere hineinfallen oder hineinkriechen, wie sie später erklären wird. Dass Ratten auf ihr herumspazieren, kann sie allerdings nicht verhindern.
Die „Kämpferin aus Leidenschaft“ aus der gleichnamigen RTL-Doku-Soap gehört zu den Teilnehmern der Show „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ im selben Programm, besser bekannt als Dschungelcamp. In einem steinernen Sarg muss Fürst in dieser Folge in völliger Dunkelheit eine so genannte Dschungelprüfung absolvieren – die „Prüfungen“ sind der jeweilige Höhepunkt der sich über etwa zwei Wochen erstreckenden Show.
Die derzeit ausgestrahlte zehnte Staffel erfreut sich größter Beliebtheit. RTL jubelt über Rekordquoten, Millionen von Fernsehzuschauern versammeln sich jeden Abend vor dem Schirm, um dabei zuzusehen, wie die Kandidaten Buschschweinsperma zu sich nehmen, Maden mit der Zunge ertasten oder sich von tausenden Kakerlaken überschütten zu lassen. Der Ekel hat Konjunktur.
Viel ist in den vergangenen Wochen und verstärkt nach den Vorfällen von Köln in der Silvesternacht von den Werten unserer Gesellschaft die Rede, die zu schützen und die Flüchtlingen zu vermitteln seien. Wenn man sich das Dschungelcamp ansieht, kann man da doch nur laut auflachen: Wir wollen den Flüchtlingen etwas über Kultur und Werte erzählen? Wir??
Das Dschungelcamp steht hier nur als besonders widerliches Beispiel des gesellschaftlichen Verfalls. Es ließen sich noch andere Beispiele ohne Ende finden, vom Verhalten des deutschen Autofahrers auf der Autobahn bis zur Respektlosigkeit, die gegenüber Autoritätspersonen vom Lehrer und Polizisten bis zum Fußballschiedsrichter eingerissen ist. Aber wer die Zusammenhänge nicht sehen will, der sieht sie auch nicht.
In der hysterischen Debatte in den Medien nach den Vorgängen von Köln wechseln sich rassistische Ausfälle und hilflose Erklärungsversuche ab. Samt und sonders verfehlen die Kommentare und Analysen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, das Thema. Es geht eben nicht um Migration, um Flüchtlinge, um fremde Kulturen, um das Frauenbild im Islam – das Thema ist: Gewalt, Verrohung, Enthemmung.
Wie die Quoten des Dschungelcamps illustrieren, ist diese deutsche Gesellschaft bereits in einem Maße verroht, von dem wir keine Vorstellung haben. Rücksichtlosigkeit, Egoismus, Mobbing, Brutalität gehören zum Programm des Kapitalismus‘ und Konsumismus‘: Setz Dich durch! The winner takes it all! Jeder ist seines Glückes Schmied! Nimm Dir, was Du kriegen kannst!
Natürlich bleibt das nicht folgenlos. Haltgebende Strukturen wie die Familie oder Sportvereine erodieren zunehmend oder werden zu Wagenburgen von verängstigten Mittelschichtlern. Ansonsten wachsen in unserer Gesellschaft die No-Go-Areas, im wörtlichen und im übertragenen Sinne, die Bereiche, in denen die Regeln nicht mehr gelten resp. straflos gebrochen werden.
Was in Köln und anderen Großstädten geschehen ist, ist in der Tat nur der Anfang – aber nicht was Übergriffe oder Straftaten von Migranten oder Flüchtlingen angeht. Sondern was die Enthemmung und Verrohung der Menschen im real existierenden Turbokapitalismus angeht. Das Traurige daran ist, dass sich die Wut der Menschen gegen ihresgleichen oder Schwächere richtet – und nicht gegen das asoziale Pack in den Luxushotels, in den Villen in Bendestorf oder Blankenese.
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