Das Unbehagen an Weihnachten – ein Essay zum Fest

010Von Kristian Stemmler

Lidl, Aldi und Media Markt sind die Combat Zones unserer Gesellschaft. In den Supermärkten, Elektronikdiscountern und sonstigen Läden des Landes sind die Fluchtdistanzen aufgehoben, vor allem in den Kassenbereichen. Eingekeilt von Einkaufswagen. Gefechtsfeld ist nicht weniger der Straßenverkehr, mit etwas mehr Distanz zum Kontrahenten. Wundert es also irgendjemanden, dass es Discounter und Straßen sind, in und auf denen Gereiztheit und Aggressivität an den Tagen vor Weihnachten explodieren?!

Von adventlicher Besinnlichkeit keine Spur, die Hektik ist mit Händen zu greifen. Schlechtgelaunte Konsumenten krakeelen bei Rossmann, fluchen bei Karstadt und ballen die Faust an der Ampel. Es muss verwundern, dass es in diesen Tagen noch zu keiner Schlägerei bei Aldi oder im Parkhaus gekommen ist, aber vermutlich sind die einfach nicht aktenkundig geworden oder die Nachricht davon ist nicht bis zu uns gedrungen. Oder sie kommen noch.

Von „Weihnachtsstress“ sprechen die Fachleute, ich nenne das Ganze lieber Adventsfuror. Und der hat wenig damit zu tun, dass es vor dem Fest viel zu erledigen gibt und manchem die Zeit knapp wird. Das macht die Sache sicher nicht besser, ist aber nicht die eigentliche Ursache für den Stress. Die liegt tiefer. Die Hektik ist eine erzeugte Hektik, zumindest aber ein in Kauf genommener Kollateralschaden.

Schon lange vor Weihnachten beginnt ein gigantisches Trommelfeuer der Konsumgüterindustrie und ihrer Hilfstruppen in Werbung und Medien auf alle unsere fünf Sinne. Wir werden zugedröhnt von morgens bis abends, es wird eine ungeheure Unruhe erzeugt. Denn wir sollen ja gerade nicht mit einem Teller Dominosteine vor einer Kerze sitzen, jedenfalls nicht so lang, sondern in die Läden laufen und kaufen. Immer mit dem Gefühl: Was hab ich noch vergessen, was brauch ich noch?

Dass die meisten Menschen dabei schlechte Laune bekommen, ist nachvollziehbar. Denn irgendwo in ihnen schwelt eine Ahnung davon, dass sie manipuliert werden, dass sie getrieben sind, dass das irgendwie anders gemeint war mit Weihnachten. Muss es wirklich ein iPad für den Sohn sein und ein 500-Euro-Kaffeevollautomat für die Frau? Ein kollektives Unbehagen macht sich breit. Und vermutlich ist die schlechte Laune auch so eine Art unbewusste Gegenwehr gegen die Imperative des Konsums.

Hinter dem materiellen Wohlstand in diesem Land tut sich eine emotionale, geistige und geistliche Armut von erschütterndem Ausmaß auf. Diese Armut aber ist der Hauptgrund für das Unbehagen an Weihnachten. Denn gemessen an der Botschaft des Weihnachtsfestes und dem Anspruch ist die Fallhöhe gewaltig. Das spüren viele Menschen dann vor allem an den festlichen Tagen selbst, denn die sind für viele noch schlimmer als die Zeit davor.

Wenn wir es nicht besser wüssten, könnte man meinen, es stehe eine Naturkatastrophe bevor. Ein Wirbelsturm namens Weihnachten, drei Tage im Stück ohne offene Läden, nur mit der Familie. Um Gottes Willen! In Presse, Funk und Fernsehen werden alle Jahre wieder Legionen von vermeintlichen Experten aufgeboten, die uns Tipps geben, wie Komplikationen an Heiligabend und den beiden Weihnachtstagen zu vermeiden seien.

An Oberflächlichkeit sind diese Tipps meist nicht zu überbieten. Da kommen dann so wertvolle Hinweise wie der, die Bescherung vorzuziehen, damit die Kinder nicht so lange warten müssen, kein aufwendiges Menü zu kochen und es mit dem Putzen nicht zu übertreiben.

Wenn man die Schwiegereltern eingeladen habe, sei das sicher nicht verkehrt, so lang man sich mit denen gut versteht. Bei „schwierigem Besuch“ solle man dagegen die gemeinsame Zeit begrenzen, etwa indem man diesem „mit liebevollen Worten“ zu verstehen gibt: „Wir möchten noch ein wenig für uns sein, wenn die Kinder im Bett sind.“ Angesichts der Konflikte, die in vielen Familien gerade zu Weihnachten eskalieren, sind derartige Tipps nun wirklich von einer geradezu unglaublichen Harmlosigkeit!

Allerdings sind zielführende Ratschläge, wie Weihnachten besinnlicher gestaltet werden könnte, aus bürgerlichen Kreisen auch nicht zu erwarten. Denn dafür müsste man genauer hinschauen, darüber nachdenken, was in dieser bürgerlich geprägten Gesellschaft eigentlich von grundauf schief läuft, und das ist viel. Man müsste an die Wurzel gehen, und das ist ja nun wirklich nicht mehr en vogue…

Es ist eben nicht damit getan, den Schwiegereltern in netten Worten mitzuteilen, dass man noch ein wenig an Heiligabend für sich sein möchte. Das ist doch wieder nur die übliche Methode, Konflikte unter den Teppich zu kehren, lieber nicht darüber zu reden. Und darunter leidet diese Gesellschaft, und das verursacht die vielen Streitigkeiten zu Weihnachten: dass an diesem mit größter Emotionalität besetzten Termin Dinge hochkochen, die sonst nie besprochen und geklärt worden sind.

Wo in dieser Gesellschaft werden die Menschen denn noch ermutigt, offen mit ihren Gefühlen und offen mit Beziehungskonflikten umzugehen? Es geht doch noch darum, dass sie konsumieren und funktionieren. Dabei sind intensive Gefühle aber eher hinderlich. Dafür sind neurotische, angstbesetzte Menschen viel besser geeignet. Arbeitgeber wollen keine Angestellten, die ihre Gefühle äußern und vielleicht mal anecken, die sollen gefälligst ihre Arbeit tun.

Um es deutlicher auszudrücken: Diese Gesellschaft produziert Gefühlskrüppel ohne Ende – und je mehr es werden, als desto normaler wird es empfunden. Es mag nur eine Randbeobachtung sein, aber man muss sich nur auf einen beliebigen Parkplatz in Deutschland hinstellen und sich die Farben der Autos angucken: silbermetalic, schwarz, antrahzit, dunkelblau… Diese Gesellschaft hat sich – freiwillig? – dermaßen neurotisch durchformatiert, dass es nicht mehr auszuhalten ist! Die Arschlöcher regieren.

Wieso sollten die Familien von den Auswirkungen dieser katastrophalen Entwicklungen verschont bleiben? Wo soll da noch die Harmonie herkommen? Wenn am 24. also wieder die Fetzen fliegen und Polizei und Sanitätsdienst im Dauereinsatz sind, darf das niemanden wundern. Es ist einfach nur ein eindeutiges Symptom der Krankheit dieser Gesellschaft.

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Comments (

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  1. buchholzexpress

    Danke, habe ich auch registriert. Bei wirklich wichtigen Sachen dürfte es schwieriger sein, etwas zu verändern…

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  2. Nur ein Bürger dieser Stadt …

    Eins hat der buchholz express mit seinen Artikeln scheinbar wirklich erreicht :
    Die Scientology Sterne an der Buchholz Galerie scheinen verschwunden. Glückwunsch, mit Hartnäckigkeit zur Zielerreichung … wäre schön, wenn das auch bei anderene Themen klappen würde 🙂

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  3. buchholzexpress

    Hat dies auf buchholz express rebloggt.

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