Von Kristian Stemmler
Wo bleiben eigentlich Bugida und Togida? Gibt es in Buchholz und Tostedt keine besorgten Bürger, die bereit sind, uns gegen die Islamisierung unseres geliebten Abendlandes zu verteidigen? Nazis dürften in der Region in ausreichender Zahl vorhanden sein und die Alternative für Deutschland (AfD) hat sich ja auch schon in der Nordheide installiert, zum Beispiel mit dem Stadtverband Buchholz und seinem kämpferischen Vorsitzenden. Also: Manfred Wiehe, übernehmen Sie!
Aber ganz im Ernst: Kann man eine Bewegung ernst nehmen, die sich „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) nennt, und das in der fast migrantenfreien Stadt Dresden mit einem Anteil von Muslimen unter einem Prozent?! Die meisten, die bei den wöchentlichen Demos der „Patrioten“ mitlaufen, haben vermutlich noch nie eine Moschee gesehen, geschweige denn, dass sie das Wort schreiben können…
Und was wollen diese Leute eigentlich verteidigen, von welchem christlichen Abendland reden die eigentlich? Wo ist denn diese Gesellschaft noch christlich?! Statt Nächstenliebe regieren Habgier, Rücksichtlosigkeit und Konkurrenzdenken, die christlichen Hochfeste Ostern und Weihnachten sind nur noch Anlass für einen Konsumrausch ohne gleichen, für Völlerei bis zum Abwinken, und heilige Schauer empfinden die Menschen heute eher in Shopping Malls und Elektronikmärkten und nicht mehr in Kirchen.
Vielleicht sollten die Pegida-Demonstranten erst mal für eine Rechristianisierung des Abendlandes auf die Straße gehen. Aber gut, wir alle wissen ja, dass das auf Religionen Bezug nehmende Motto der Demos nur ein Vorwand ist, dass es tatsächlich um nichts als Fremdenfeindlichkeit geht. Darum darf der Zulauf zu den Demos dieser „Patrioten“ auch nicht überraschen. Überraschen kann eher, dass es so lange gedauert hat, bis die Paranoia, die sich in Kommentarspalten und Foren des Internets schon lange austobt, nun auch auf der Straße angekommen ist.
Seit Jahren zeigt sich immer wieder, dass ein nicht geringer Teil der Bevölkerung bereit ist, jeden rechtspopulistischen Blödsinn nachzubeten, und sei er noch so weit entfernt von begründbaren Annahmen. Interessant sind in diesem Zusammenhang nach wie vor die Ergebnisse der Langzeituntersuchung zur so genannten „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, geleitet vom Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer. Die Zahlen stammen zwar aus 2007, dürften sich aber nicht wesentlich verbessert haben.
Mit 54,7 Prozent erklärten bereits damals mehr als die Hälfte der Befragten, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben würden – und das zu einer Zeit, da die Asylbewerberzahlen auf niedrigem Niveau stagnierten. 29,7 Prozent stimmten der Aussage zu, Ausländer müssten zurückgeschickt werden, wenn die Arbeitsplätze knapp würden. Immerhin noch 15,6 Prozent der Befragten stimmten der abenteuerlichen Aussage zu, dass Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten, und 32,9 Prozent meinten, Obdachlose seien arbeitsscheu.
So vielschichtig die Ursachen für den erneuten Protest auch sein mögen, es gibt eindeutig nur einen Auslöser: der Anstieg der Asylbewerberzahlen in diesem Jahr. Dass es in den vergangenen Jahren bei dem Thema Flüchtlinge vergleichsweise ruhig geblieben ist, liegt einzig und allein daran, dass nach dem so genannten Asylkompromiss von 1992, mit dem das Recht auf Asyl praktisch abgeschafft wurde, die Zahlen der Asylbewerber erheblich zurückgingen.
Erst die aktuellen Kriege und Krisen, vor allem im Nahen Osten und Afghanistan, aber auch in Afrika, an deren Eskalation der Westen im übrigen seinen Anteil hat, haben hier für einen erneuten Anstieg gesorgt. Wobei man betonen muss, dass wir mit vermutlich unter 200.000 Asylanträgen in diesem Jahr vom Höchststand von 1992 noch weit entfernt sind, da waren es nämlich rund 438.000. Aber so oder so: Gemessen an den Flüchtlingszahlen in den betroffenen Regionen, zum Beispiel im Libanon, ist das alles noch lächerlich. Ein reiches Land wie Deutschland sollte kein Problem haben, so viele Flüchtlinge aufzunehmen.
Mit Argumenten kommt man den Pegida-Anhängern aber sicher nicht bei, vor allem weil da neben unausrottbaren Vorurteilen und Klischees diffuse Ängste eine Rolle spielen. Wiederkehrendes Motiv ist etwa, dass man das Gefühl hat, von der Politik über den Tisch gezogen und von den Mainstreammedien belogen und manipuliert zu werden. Das Problem dabei ist nur: Zumindest in diesem Punkt liegen die Demonstranten ja ziemlich richtig!
Für den Eindruck, dass sich in der Politik zunehmend mächtige Interessengruppen durchsetzen und der „kleine Mann“ dabei immer mehr unter die Räder kommt, sprechen leider viele Indizien. Wir sind ja inzwischen schon an dem Punkt, dass Lobbygruppen sich ihre Gesetze selber schreiben und die Abgeordneten diese dann nur noch abnicken. Und die Masse der Medien sieht ihre Aufgabe nicht daran, diese und andere Sauereien aufzudecken, sondern uns Sand in die Augen zu streuen. Bestes Beispiel für ihre Einäugigkeit ist das Auftreten in Sachen Russland/Ukraine-Krise.
Ohne eine tiefgründige Analyse gesellschaftlicher Zustände lassen sich die Pegida-Proteste aber weder verstehen noch aufhalten. Es ist zu befürchten, dass die Rechtspopulisten in Deutschland weiter Auftrieb bekommen und in Gestalt der AfD auch demnächst in westdeutschen Parlamenten ihr braunes Gesülze verbreiten. Wenn sogar schon in Schweden, das früher immer als Hort sozialen Friedens galt, eine rechtspopulistische Partei an Zustimmung gewinnt, dürfte auch Deutschland davon nicht verschont bleiben. Der Turbokapitalismus geht an den eigenen Widersprüchen zugrunde.
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