Von Kristian Stemmler
Am Sonnabend wird das bürgerliche Tostedt eine Ersatzhandlung vollziehen, eine Art reinigendes Ritual, eine profane Prozession mit religiösem Einschlag. „Ein Ort steht auf gegen Neonazis!“, titelte das Wochenblatt und weckte mit dieser pathetischen Überhöhung Erwartungen an die Effektivität der Veranstaltung, die nicht einzulösen sein werden. Man wird sich hinterher besser fühlen – denen haben wir es aber gezeigt! Dann wird sich der Ort wieder hinsetzen.
Aber im Ernst: Ich will niemandem dem Spaß am Demonstrieren verderben, und es ist ja schon was, dass das Thema überhaupt als wichtig wahrgenommen wird. Leider ist aber zu befürchten, dass, so wie das Ganze von den Verantwortlichen organisiert und verkauft wird, der Protest wie alle vorherigen Aktionen dieser Art letztlich wirkungslos verpufft. Und zwar hauptsächlich weil dem Protest kein wirkliches Verständnis vom Phänomen Neonazis/Rechtspopulismus und keine fundierte Einordnung in gesellschaftliche Kontexte zugrunde liegt. Und weil die politische Gemeinde, Polizei und Staatsanwaltschaft offenbar nicht wirklich interessiert sind, sich mit Silar und Konsorten anzulegen.
Die Leisetreterei und Harmlosigkeit der für die Demo Verantwortlichen, die diese beispielhaft in einem Interview im Nordheide-Wochenblatt vorführen, ist für die Wirksamkeit des Protestes jedenfalls absolut kontraproduktiv. Wenn Samtgemeindebürgermeister Dirk Bostelmann (CDU) allen Ernstes formuliert: „Wir können nicht mal eben sagen: Nazis weg oder Kommunisten weg“ dann ist das blanker Unsinn und eine ungeheuerliche Gleichsetzung – Herr Bostelmann, leben Sie eigentlich noch in den 50ern? In ähnliche Richtung geht die Äußerung von Ortsbürgermeister Gerhard Netzel (SPD), es sei ihm wichtig, dass „nicht wieder Antifa und Rechtsextremisten aufeinander treffen“, und auch Ulli Graß vom „Forum für Zivilcourage“ hatte in einem anderen Medium schon vor linker Gewalt gewarnt.
Meine Herren, Sie haben offenbar die Zeichen der Zeit nicht erkannt! Statt Energie dafür zu verbrauchen, sich nach links abzugrenzen und die Gewaltfrage hochzuziehen, sollten Sie mal etwas Gedankenschmalz in die Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen investieren. Die doch letztlich überschaubare Clique von Neonazis hierzulande ist ja nur der extreme Ausdruck einer viel breiteren unterschwelligen Bewegung, von deren Dynamik und Gefahrenpotenzial wir uns noch kein wirkliches Bild machen können. Machen Sie doch mal die Augen auf!
Es laufen doch in den Städten, in Hamburg sowieso, aber natürlich auch in Buchholz und Tostedt, wo auch immer, scharenweise Leute mit geballter Faust in der Tasche herum. Leute, die längst mit braunem/rechtspopulistischem Gedankengut infiziert sind. Und zwar vor allem, weil ihnen täglich vermittelt wird, dass sie in dieser Gesellschaft nicht gebraucht, nicht erwünscht sind, dass man sie für überflüssig und störend erachtet. Menschen, die geistig, emotional und spirituell verroht sind durch den herrschenden Sozialdarwinismus, durch den täglichen Beschuss mit Ekel-TV, Gewaltvideos, Pornos etc. pp.
Gucken Sie sich doch mal an, was in der Mittelschicht gern als „Unterschichtfernsehen“ apostrophiert wird. Das öffentliche Demütigen und Bloßstellen wird doch da zum Volkssport erhoben. Darf man sich denn vor diesem Hintergrund darüber wundern, dass menschenverachtende rechte Ideen, deren Kern immer das Niedermachen anderer zum Zwecke der eigenen Aufwertung ist, Konjunktur haben. Kriegen Sie denn das alles nicht mit oder wollen sie das gar nicht mitkriegen?
Es ist wohl so: Die Mittelschicht begreift nicht, was in dieser Gesellschaft abläuft, wie sich hier sozialer Sprengstoff zusammenballt. Sie taumelt bewusstlos durch eine Zeit, die sie nicht versteht und sehnt sich in die überschaubaren 80er oder 70er zurück. Das ist deshalb so tragisch, weil die entscheidenden Impulse und Analysen m. E. nur aus der Mittelschicht kommen können. Eigentlich müsste es dort genug Leute geben, die von ihrer intellektuellen Grundausstattung befähigt sind, gesellschaftliche Prozesse zu interpretieren. Aber vermutlich sind einfach die Verlustängste zu groß. Deshalb grenzt man sich lieber nach unten (und nach links) ab und hofft, dass alles doch noch irgendwie gut wird. Aber daraus wird nichts: Wir sitzen alle in einem Boot!
Read Full Post »